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Weil ich nun mal hier lebe

Gleich nachdem die Besucher die Stufen des Treppenhauses des MMK Tower in den Ausstellungsraum erklommen haben, beginnt die Ausstellung mit einer reflexiven Begegnung. Im Treppenhaus eines Wohnhauses aufgereiht, treten dessen Bewohner nacheinander vor die Kamera und stellen sich in ein paar Sätzen vor. In unterschiedlichen Sprachen erzählen sie von ihrem Leben, ihrer Herkunft und ihren Erfahrungen in Deutschland. Die meisten von ihnen, so stellt sich nach einigen Vorstellungen heraus, sind als Gastarbeiter in die BRD gekommen, über die sogenannten Abwerbeabkommen, in deren Rahmen seit 1955 ausländische Arbeitskräfte nach Deutschland geholt worden waren.



Bild oben: Želimir Žilnik, Inventur – Metzstrasse 11, 1975, © Želimir Žilnik


Und so sehen sich die Besucher gleich mit der ersten Arbeit jenen Menschen gegenübergestellt, deren Ausgrenzung aus der Gesellschaft die Ausstellung Weil ich nunmal hier lebe thematisiert. Kuratorin Susanne Pfeffer schafft in ihrer Ausstellung einen Begegnungsraum, der auch die ankommenden Gastarbeiter in Želimir Žilnik Arbeit Inventur-Metzstraße 11 von 1975 im Hier und Jetzt verortet und gegenwärtige Fragestellungen zu Ausgrenzung, Integration und strukturellem wie institutionellem Rassismus umreißt.


Gleich in der nächsten Arbeit Aufstellung von Harun Farocki, der für seine politische Kunst bekannt ist, offenbart sich der strukturelle Rassismus in den stereotypen und klischeehaften Darstellungen von Zuwanderung in Schulbüchern, Zeitungen oder behördlichen Broschüren. Farocki zeigt in seiner Kritik an den grafischen Darstellungsweisen von Migration, wie bestimmte Migrantengruppen charakterisiert und die Darstellungen zu einem Vokabular unserer Wahrnehmung werden. Menschen mit Koffern symbolisieren Flüchtlinge und Vertriebene, Männer tragen Fez oder werden mit dickem schwarzem Schnäuzer dargestellt, Frauen tragen Kopftuch oder den Tschador. Diese Darstellungen geben den zunächst nüchternen Zahlen zur Einwanderung ein stigmatisiertes Gesicht. In schneller Abfolge schneidet Farocki die einzelnen Bilder zusammen, Herkunft und Bewegungen der Migranten werden mit Pfeildiagrammen veranschaulicht, die auch „Völkerwanderungen“ und Angriffskriege visualisieren. Und die sogenannten Folgen der Migration werden mit Mitteln dargestellt, wie sie auch in nationalsozialistischer Propaganda verwendet wurden. Schnell wird dem Besucher die Weitergabe rassistischer Bild- und Denkmuster deutlich, in der raschen Bildfolge suggerieren die scheinbar objektiv bebilderten Zahlen mit einem mal den Eindruck von Angriff und Gefahr.

Alltäglicher Rassismus

Die Arbeiten der Ausstellung nehmen dabei auch immer wieder dokumentarische Perspektiven von Menschen ein, die von Rassismus betroffen sind und deren Wissen wie auch Erfahrungen vom institutionellen und medialen Diskurs häufig ausgeschlossen werden. Susanne Pfeffer ergänzt die künstlerischen Arbeiten mit dokumentarischen Videos wie den audiovisuellen Mikro-Interventionen von TRIBUNAL NSU-Komplex auflösen, die den alltäglichen Rassismus sichtbar und hörbar werden lassen. In dem TV-Interview Weil ich nun mal hier lebe etwa antwortet eine junge Frau auf die rassistischen Brandanschläge in Mölln (1992) und Solingen (1993), indem sie trotzig und selbstbewusst klarmacht, dass sie hierher gehört:

SPOTS, Weil ich nun mal hier lebe, 2017 / Hatice Ayten, Ohneland, 1995

Im Video Wie man zu einer Deutschen wird? zeigt sich, was es bedeutet, wenn Menschen in der gesellschaftlichen Wahrnehmung fortwährend als „Andere“ eingeordnet werden. Obwohl in Deutschland geboren und verwurzelt, beschreibt die interviewte Frau, wie ihr die Zugehörigkeit zur Gesellschaft abgesprochen wird, sie überall fremd ist und sie sich selbst der rassistischen Einordnung folgend als Türkin sehen muss:

SPOTS, Wie man zu einer Deutschen wird? 2017



Der NSU-Komplex und institutioneller Rassismus


Auch der NSU-Komplex, der gerade nach einem fünfjährigen Prozessmarathon mit der Verurteilung der Hauptangeklagten zur Höchststrafe geendet hat, wird in mehreren Arbeiten untersucht. Henrike Naumanns Arbeit 14 words verortet den Besucher sozusagen in den Realraum des NSU-Geschehens in Sachsen, indem sie die Inneneinrichtung eines Blumenladens aus Neugersdorf, einem Ortsteil in Sachsen, im Ausstellungsraum installiert.

Henrike Naumann, 14 Words, 2018, Courtesy Henrike Naumann und KOW Berlin, Foto: Axel Schneider


Eine versteckte Videoarbeit in der Installation zitiert den aus den USA stammenden, aber auch in Deutschland gebräuchlichen rechtsideologischen Code der Zahl 14, der auch in dem Bekennervideo der NSU auftaucht: „We must secure the existence of our people and a future for white children.“ Wie solche Ideologeme, also in Zahlen oder Worte codierte Vorstellungswerte, über Architektur und Design transportiert und verbreitet werden.

Installationsansicht TOWERMMK, Forensic Architecture, 77sqm_9:26min, 2017, © Forensic Architecture, Foto: Axel Schneider

Die Rolle des Verfassungsschutzes in den Morden des NSU-Trios untersucht das Kollektiv Forensic Architecture, das für den diesjährigen Turnerpreis nominiert ist. 2017 wurden sie von der Gruppe Tribunal NSU-Komplex auflösen beauftragt, die Zeugenaussage des ehemaligen Verfassungsschützers Andreas Temme im Mordfall Halit Yozgat zu hinterfragen. Dieser hatte sich nicht als Zeuge gemeldet, obwohl er zur fraglichen Zeit am Tatort des Mordes an Halit Yozgat war und konnte erst später durch Login-Protokolle des Internetcafés und Zeugenaussagen ermittelt werden. In ihrer Videoarbeit 77sq_9:26min rekonstruieren Forensic Architecture den Tathergang mittels Zeugenaussagen, einem Polizeivideo, den dokumentierten Telefon- und Internetprotokollen und einer architektonischen Simulation des Tatortes, um die Frage zu klären, ob der Verfassungsschützer Temme den Mord gesehen oder selbst daran beteiligt gewesen sein könnte. Ihre Forschungsergebnisse wurden dem Gericht vorgelegt, aufgrund eines Formfehlers aber nicht zugelassen. Stattdessen wurden Teile der Forschungsergebnisse in einer Befragung Temmes im hessischen NSU-Untersuchungsauschuss benutzt. Noch vor der Sitzung gab es allerdings scharfe Kritik von Seiten des CDU-Obmanns des hessischen Verfassungsausschuss Holger Bellino. Dieser wollte die Arbeit nicht als Beweismittel anerkennen, da Kunst keinen Anspruch auf Wahrheit habe.


Mit der Ausstellung Weil ich nun mal hier lebe schafft Kuratorin Susanne Pfeffer einen Raum, der die Besucher vor dem gegenwärtigen Klima ihre eigene Lebensumwelt hinterfragen lässt. Im Gespräch mit Sleek erzählt Pfeffer, dass es ihr wichtig war, eine Ausstellung zu machen, die nicht schon seit Jahren geplant war. „Der zeitgenössische Moment ist sehr wichtig. Alle drei Ausstellungen [im MMK], auch wenn ganz unterschiedlich, befassen sich damit, wie sich strukturelle Gewalt in der gegenwärtigen deutschen und globalen Gesellschaft manifestiert.“


Die Ausstellung weil ich nun mal hier lebe im MMK Tower läuft noch bis zum 31.März 2019.


Am 3.Dezember findet im Südblock in Berlin von 19:30 - 21:30 Uhr eine Podiumsdiskussion und Video-Screening über die Arbeit von Forensic Architecture in den Fällen NSU und Golden Dawn statt.

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